"Mehr und mehr Marktteilnehmer gehen nach den schlechten Konjunkturzahlen für Europa davon aus, dass die EZB in den nächsten Monaten, spätestens Anfang kommenden Jahres die Zinsen senken wird", sagt Hüfner. "Wird die Notenbank wirklich bald von ihrem restriktiven Kurs Abstand nehmen? Ich habe hier einige Zweifel."
Schaue man sich die Rhetorik der Notenbank an, so gebe sie wenig Hinweise in Richtung auf einen Kurswechsel. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet hat zwar auf seiner letzten Pressekonferenz die Wachstumsrisiken etwas stärker und die Preisrisiken etwas weniger stark betont. "Das war aber nur marginal", so Hüfner. "Umgekehrt hat der Präsident der Deutschen Bundesbank, Axel Weber, der bei der letzten Zinserhöhung eine wichtige Rolle spielte, dieser Tage deutlich vor einer Panikmache bei der Konjunktur gewarnt und stattdessen die Inflationssorgen betont."
"Die Europäische Zentralbank befindet sich in einem Zwiespalt"
Die Inflation werde sich als Folge der niedrigeren Ölpreise ermäßigen, glaubt direktanlage.at-Berater Hüfner. Sie bleibe aber auf einem unakzeptabel hohen Niveau. Wir hätten also Stagflation, oder zumindest eine stagflationsähnliche Situation. Die EZB befände sich in einem Zwiespalt, so der Volkswirt: "Von ihrem Auftrag her gesehen ist sie nur für die Geldwertstabilität zuständig. Sie kann sich in dem politischen Umfeld aber nicht ganz aus der Verantwortung für Wachstum und Beschäftigung heraushalten. In den zehn Jahren ihrer Existenz hat sich gezeigt, dass sie immer auch auf die konjunkturellen Veränderungen Rücksicht genommen hat."
So blieben der Zentralbank zwei Strategien: "Die eine, insgesamt risikolosere ist, die Zinsen zu senken und darauf zu vertrauen, dass sich das Problem der Inflation schon von selbst lösen wird. In der Tat wäre es auf die Dauer wider jede ökonomische Vernunft, dass sich die Konjunktur abschwächt und die Preissteigerung nicht zurückgeht. Bei dieser Strategie kann sich die EZB der Zustimmung der Märkte und der Politik – zumindest kurzfristig – sicher sein."
Die andere Strategie wäre riskanter, betont Hüfner: "Sie heißt Bekämpfung der Stagflation durch ein konzertiertes Zusammenwirken von Geld- und Fiskalpolitik. In der Theorie sieht das relativ einfach aus. Die Notenbank orientiert sich allein an der Inflation und den Inflationserwartungen. Sie bleibt restriktiv oder verschärft ihren Kurs eher noch. Die Finanzpolitik stützt dagegen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch deficit spending.
Rat an die Anleger: "Entscheidend sind die Preiserwartungen"
Die Schlussfolgerung des direktanlage.at-Beraters: "Ich vermute, dass die EZB diese zweite Strategie wählen wird, auch wenn es Probleme mit den Finanzministern gibt. Sie ist die Bessere." Hüfner rät den Anlegern: "Lassen Sie sich nicht von Statements in der einen oder anderen Richtung irritieren. Schauen Sie auch nicht auf die Daten der Preisentwicklung, die durch die Ölpreissenkung ein verzerrtes Bild geben. Entscheidend sind die Preiserwartungen. Solange sich hier nichts tut, bleibt die EZB mit dem Fuß auf der Bremse. Erst wenn sich hier eine Verbesserung ergibt, wird die EZB lockern."
Hüfner prognostiziert eine Enttäuschung für die Märkte: "Der Aufschwung des US-Dollar wird an Kraft verlieren. Vielleicht ermäßigt sich die US-Währung auch zeitweilig. Die Zinsen für kürzere Laufzeiten an den Kapitalmärkten werden wieder steigen. Die Zinsstruktur zwischen dem kurzen und dem langen Ende des Marktes wird flacher."
Zum Autor: Martin Hüfner war viele Jahre Chefvolkswirt bei der HVB und Senior Economist bei der Deutschen Bank. Heute berät er Finanzdienstleister und schreibt für verschiedene Publikationen. Hüfner ist seit 2006 volkswirtschaftlicher Berater des führenden österreichischen Discount-Brokers direktanlage.at.
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